APRIL.2009-09-22

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Ausverkauf des Staates - oder Fahrplanwechsel?

Wieviel öffentliche Daseinsvorsorge brauchen wir? Wie stehen die Parteien vor der Wahl zu Privatisierungen, z.B. bei der Bahn, im Gesundheitswesen oder anderen Bereichen? Was hilft uns ÖPP? Sollen und können die Finanzlöcher von heute und morgen durch weitere Privatisierungen gestopft werden? Welche Aufgaben sollten auf jeden Fall durch Bund, Länder und Kommunen erfüllt werden?

Podiumsdiskussion mit Leipziger Direktkandidaten für den Deutschen Bundestag

  • Daniela Kolbe (SPD)
  • Mike Nagler (parteilos, für Die Linke antretend)
  • Friedbert Striewe (B90/Grüne)

Moderation: Sven Knobloch

Wann: Am Dienstag, 22.09.2009, 19 Uhr im Volkshaus, Erich-Schilling-Saal, 5. Etage

Verkehrsminister Tiefensee, der als Direktkandidat im Wahlkreis 154 antritt, hat leider abgesagt, ebenso die CDU-KandidatInnen Frau Kudla und Herr Feist. Andere CDU- und FDP-Vertreter wurden von uns angefragt. Siehe dazu die Antwort von Felix Döhler aus dem Wahlkampfteam der CDU Leipzig.


Berichterstattung:


Ankündigung

Bürgerbefragung öffentlicher Dienst 2009
Der dbb beamtenbund und tarifunion und das Meinungsforschungsinstitut forsa haben am 10. September 2009 in Berlin ihre dritte jährliche Bürgerbefragung zum Image des öffentlichen Dienstes vorgelegt. Ein Ergebnis ist: Über 70 Prozent der Bürger wollen keinen weiteren Ausverkauf.
Den Befragten wurden auch 2009 wieder zwei Aussagen über die Rolle des Staates in der globalisierten Gesellschaft vorgelegt. Die eine lautete, dass man in einer globalisierten Gesellschaft immer weniger Staat brauche, weil der Markt letztendlich schon alles richten werde. Die zweite lautete, dass man gerade in einer globalisierten Gesellschaft einen starken Staat brauche, der die Bürger vor ausufernden Entwicklungen schützen könne.
Der Auffassung, dass man heute immer weniger Staat brauche, stimmen 2009 noch weniger Bürger zu als schon 2008 und 2007. Die Zustimmung liegt in allen Bevölkerungs- und Wählergruppen – mit Ausnahme der FDP-Anhänger – unter 20 Prozent.
Quelle: http://dbb.de/dbb-beamtenbund-2006/dbb-pdf/forsa_2009.pdf

Fazit nach 20 Jahren: Wesentliche Privatisierungsziele wurden nicht erreicht.
Eine kritisch-differenzierte Sicht auf 20 Jahre Privatisierung zogen der Arbeitskreis Dienstleistungen von ver.di und die Friedrich-Ebert-Stiftung auf einer Tagung im Sommer in Berlin. SPD-MdB Klaus Barthel, Vize im Beirat der Bundesnetzagentur, schilderte seine Erfahrungen mit Netzregulierung: Während die „asymmetrische“ Regulierung im Telekommunikationsbereich für mehr Wettbewerb und niedrigere Preise sorgte, stärkte die Netzregulierung noch die Oligopolisten und setzte rein betriebswirtschaftliche Kriterien durch. Nun drohe eine Investitionsblockade, falls die Politik die Rendite senke, es bestehe ein Wettbewerbsdilemma zu Gunsten der großen Vier und es fehlten Instrumente, die Standards privatisierter Betriebe zu beeinflussen. Daher riet Barthel (noch vor dem Kollaps der Berliner S-Bahn, d. Red.) zu einer Debatte über Servicequalität und -standards in verbliebenen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge.
mehr: https://listi.jpberlin.de/pipermail/apri/2009-September/000710.html

Wieviel öffentliche Daseinsvorsorge brauchen wir? Wie stehen die Parteien vor der Wahl zu Privatisierungen nicht nur bei der Bahn, sondern auch z.B. im Gesundheitswesen? Was hilft uns ÖPP? Sollen und können die Finanzlöcher von heute und morgen durch weitere Privatisierungen gestopft werden? Welche Lehren ziehen wir aus dem Berliner S-Bahn-Chaos der letzten Tage?

Die folgenden Fragestellungen stehen im Mittelpunkt der Veranstaltung:

1) Öffentliche Daseinsvorsorge

  • Sehen Sie eine Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge als notwendig an?
  • Kann und soll das ständig wachsende Finanzloch der öffentlichen (kommunalen) Haushalte durch Privatisierungserlöse gestopft werden (z.B. im Gesundheitswesen)?
  • Wie können die Kommunen mit den finanziellen Mitteln ausgestattet werden, die sie benötigen?

2) Bahnprivatisierung

  • In welche Richtung soll sich die Deutsche Bahn entwickeln: Globaler Player im Logistiksektor oder Bürgerbahn?
  • Was sagen Sie zum Desaster der DB in den letzten Monaten: Sicherheitsdefizite, schlechter Service, hohe Preise – Bsp.: Berliner S-Bahn
  • Wie können die Mobilitätsbedürfnisse der BürgerInnen ökologisch und wirtschaftlich nachhaltig bedient werden?

3) Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP oder PPP)

  • Wie stehen Sie zu dem von der noch amtierenden Bundesregierung vorbereiteten ÖPP-Vereinfachungsgesetz?
  • Wie stehen Sie dazu, dass Forderungen aus ÖPP-Geschäften von Banken verbrieft und auf den Kapitalmarkt geworfen werden. Ist eine neue Runde des „globalen Casinos“ zu erwarten, diesmal mit kommunalen Geldern?
  • Welche Pflichtaufgaben des Staates dürfen im Rahmen von ÖPP auf keinen Fall privatisiert werden? Welche weiteren Bereiche sollten Ihrer Meinung nach auf jeden Fall unter staatlicher Regie und demokratischer Kontrolle bleiben? Wo sehen Sie weiteren Spielraum für Privatisierungen?

Bericht

Nachdem einer der über 20 Zuhörer gleich am Anfang seinem Unmut über die abwesenden Bundestagskandidaten Luft machte, ging es mit den drei anwesenden Podiumsgästen zur Sache in einem inhaltlich tiefgründigen Gespräch, das in größerer Runde so vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre. Dabei ging es in keiner Weise plakativ zu, sondern die komplexen Handlungs- und Wirkbedingungen insbesondere kommunalen Agierens im Spannungsfeld zwischen Bürgerwünschen, ökonomischer Vernunft - im Sinne des "gesunden Menschenverstands" und nicht neoliberaler Ideologie verstanden - und finanziellen Zwängen wurden sehr differenziert beleuchtet. Dass der Schwerpunkt der Diskussion an diesem Abend gerade im Bereich kommunaler Handlungsfähigkeit lag, wird bei den Einladern und den beteiligten Diskutanten wenig verwundern.

Etwas vage blieb ein weiteres Mal der Begriff des "kommunalen Unternehmens", insbesondere in der Unterscheidung zwischen der Rolle kommunalpolitischer (und zivilgesellschaftlicher) Entscheidungsprozesse auf der Eigentümerebene und dem Agieren der Geschäftsführung im "operativen Geschäft". Die verschiedenen Sichten der drei Podiumsgäste auf die Frage nach der Rolle betriebswirtschaftlicher Faktoren auf das Agieren kommunaler Unternehmen - die von regulativen Ansätzen durch eine angemessene (bundes- und landes-)staatliche Gesetzgebung bis hin zur Betonung der relativen Eigendynamik ökonomischer Wirkmechanismen reichten - spannte aber wenigstens den widersprüchlichen Rahmen dieses Spannungsverhältnisses auf.

Weitgehende Einigkeit herrschte in der Bewertung aktueller PPP-Vorstöße - insbesondere des gemeinsamen Antrags "Faire Wettbewerbsbedingungen für Öffentlich Private Partnerschaften schaffen" vom 18.03.2009 von Abgeordneten aus CDU/CSU und SPD, der in PPP-kritischen Netzwerken als weitere Runde der bundesrechtlichen Besserstellung der privaten gegenüber kommunalen Unternehmen gewertet wird. Die angestrebten Regelungen liegen derzeit auf Eis, eine Neuaufnahme nach der Bundestagswahl ist zu erwarten. Frau Kolbe als einzige Podiumsteilnehmerin, die auch über die Landesliste in den Bundestag gewählt werden kann, deutete hier ein klares Umdenken in der SPD-Fraktion an, das sie selbst aktiv weiter befördern wird. Der Hinweis, dass diese PPP-Ausbaupläne allerdings gerade im Hause von Minister Tiefensee kommen, blieb im Raum stehen.

Weitere Fragen tangierten die angemessene Finanzausstattung von Kommunen. Hier waren sich die drei Podiumsgäste ebenfalls einig, dass dies ohne eine grundlegende Gemeindefinanzreform nicht zu erreichen sei. Griffigen Ansätzen einer Neuordnung des Steuersystems aus dem "Bierdeckel"-Katalog, die auch an diesem Abend aus dem Auditorium ansatzweise vorgetragen wurden, erteilten sowohl Herr Striewe als auch Frau Kolbe eine klare Absage. Die Materie sei zu komplex und zu eng mit den realen Umverteilungsprozessen in der Gesellschaft verbunden, um radikale und einfache Lösungen wirklich zuzulassen. Ebenso skeptisch gingen sie mit der Losung einer 50-prozentigen Reduzierung der Rüstungsausgaben um. Insbesondere Herr Striewe betonte, dass er als Kriegsdienstverweigerer diese Argumente durchaus verstehe, aber eine solche Entscheidung nicht ohne ein grundlegendes Umsteuern in der Außenpolitik zu haben sei, das - entsprechende politische Mehrheiten vorausgesetzt - er sich auch nicht als radikalen Kurswechsel von heute auf morgen vorstellen könne. Die sich abzeichnende weitere Verschärfung der Finanznot der Kommunen durch Einnahmeausfälle als Auswirkung der aktuellen Finanzkrise erfordert deutlich schneller greifende Lösungen.

Ich denke, damit die wichtigsten Argumentationslinien dieses Abends nachgezeichnet zu haben. Die Befürchtung des Wahlkampfteams der CDU Leipzig, dass "die Unvoreingenommenheit des Veranstalters ... nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden (könne), was eine faire und ausgewogene Diskussion von vornherein in Frage stellt", sehe ich jedenfalls widerlegt, zumal es ja auch nicht die erste parteiübergreifende Veranstaltung des APRIL-Netzwerks ist. Etwas schade fand ich allerdings, dass in der Diskussion jenseits des - primär funktional begründeten - Sachangemessenheitsarguments kaum eine Differenzierung des Begriffs "staatlich" erfolgte. Die Entwicklungen der letzten Jahre - besonders das Erstarken der Freien Wähler auf Kommunalebene - zeigen, dass von engagierten Bürgern das unmittelbare Beteiligungspotenzial auf kommunaler Ebene unvergleichlich höher eingeschätzt wird als die Möglichkeiten direkter Demokratie auf Landes- oder Bundesebene.

Hans-Gert Gräbe, 23.09.2009