WAK.Debatte.2009-05-26-FK
Quelle: http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/ae1fc4b68dca8c93
Ich habe letztens etwas Interessantes von Thomas Kuhn gelesen ("Die Struktur der Wissenschaftlichen Revolutionen")
Ihr als alte Revolutionstheoretiker seid mir da sicher schon etwas voraus in dem Thema, aber dennoch kurz meine Gedanken dazu, auch wenn es vielleicht für euch nichts Neues sein mag.
Wenn man Kuhns Hauptprämisse weg lässt (um jeden Preis jede Art von Metaphysik abzulehnen) lässt sich seine Theorie, etwas variiert, gut verwenden.
Demnach herrschen in Wissenschaftler-Gemeinschaften bestimmte Paradigmen, die diese Gemeinschaften konstituieren. Kommen diese Paradigmen z.B. aufgrund neuer Erkenntnisse, logischer Widersprüche, etc. in eine Krise, werden - unterstützt durch einen Generationswechsel - neue Paradigmen aufgestellt. Da aber aufgrund der Vorgabe "die Sprache bestimmt das Weltbild" die neue Theorie in die alte nicht zu übersetzten ist, findet keine Evolution, sondern eine Revolution statt.
Soweit Kuhn. Ich finde aber, dass durchaus Übersetzung auch unter der Vorgabe "die Sprache bestimmt das Weltbild" möglich ist. Solange man sich auf etwas Metaphysik einlässt, dass allen Menschen etwas eigen ist, dass sie Menschen sind z.B. (vgl. Descartes). Aber richtig; Übersetzungen zweier verschiedener Sprachen bedarf etwas Drittes, Vergleichendes. In der Physik kann das die Mathematik sein, in der Wissenschaft die Ethik, etc.
Jetzt kommt etwas Luhmann ins Spiel. Geht man von verschiedenen Systemen (ich nenne sie Stränge) in der Gesellschaft aus, dann kann man während einer Revolution in einem Strang, mittels der anderen Stränge kommunizieren (die Theorie durchaus im Gegensatz zu Luhmann, der von der Abgeschlossenheit der Systeme ausging und einer ausschließlich internen Kommunikation). Diese Revolutionen in den Strängen sind Mikro-Revolutionen (vgl. HGG). Treten aber mehrere Mikro-Revolutionen gleichzeitig auf, kann es zu einer Makro-Revolution kommen, die die gesamte Gesellschaft betrifft, da nicht genügend "intakte" Stränge vorhanden sind, um eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation stattfinden zu lassen.
Meiner Meinung nach befinden sich mehrere Stränge gegenwärtig in einem Revolutionsprozess bzw. in einer Krise. Das ist eine Wirtschaftskrise, eine Wissenschaftskrise, eine Kulturkrise, und eine Demokratiekrise. Dies müsste zwangsläufig in eine Makro-Revolution münden.
Ich finde es daher wenig sinnvoll darüber zu spekulieren, warum DIE LINKE nicht von "der Krise" profitiert, wenn sie durch die Krise aufgelöst wird, insofern es sich um die Partei handelt. Das gegenwärtige System ist durch parteiendemokratischen Parlamentarismus geprägt. Eine Krise und daraus resultierende Revolution dürfte dieses System nicht überstehen.
Auch auf die Gefahr des Eklektizismus hin; Lässt sich Hannah Arendts Erklärung für Antisemitismus (Für Antisemitismus finde ich ihn wenig geeignet, aber auf die Politikerkaste bezogen, ist er hinreichend gut. Vgl. "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft") verwenden. Demnach wird nicht gehasst, was Reichtum besitzt, sondern was Reichtum besitzt und keine dazugehörige Macht. Auf Politiker/Parteien trifft dies zu, sie profitieren materiell von dem jetzigen System, geben aber immer und überall zu verstehen, dass sie keine Macht haben, sei es aufgrund der berühmten Sachzwänge, oder weil sogenannte Experten von den Spezialgebieten ohnehin mehr Ahnung haben. Politiker entmachten sich permanent selber und werden so als parasitär wahrgenommen. Die Konsequenz wäre die Abschaffung des parteiendemokratischen Parlamentarismus.
Soweit, und danke an die die es durchgehalten haben bis hierher zu lesen.
Florian Krahmer, 26.05.2009
Kommentare dazu:
Hans-Gert Gräbe, 26.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/114e35c1cbe7f1ef
Dass mich das Thema "Wie geht Fortschritt?" (was ja Kuhn paraphrasiert ist) schon lange bewegt muss ich nach Dahlen wohl nicht extra betonen. Ich fände es ebenfalls spannend, wenn wir die Fixiertheit auf die Reflexion - bzw. wohl eher Nichtreflexion, siehe meinen Aufsatz "Wissenschaftspolitik - der blinde Fleck der Linken(dot)" - solcher Themen in der Linkspartei hinter uns lassen könnten.
Links:
- Notizen zum Beitrag "Wie geht Fortschritt" auf der Dahlener Tagung 2009 des Rohrbacher Kreises - http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/RohrbacherKreis/Dahlen-09/Beitrag-HGG
- Aufsatz "Wissenschaftspolitik - der blinde Fleck der Linken(dot)" - http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/index.html
Herbert Maschke, 27.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/114e35c1cbe7f1ef
Hans-Gert Gräbe, 26.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/8af07f80cd74e03c
Noch zwei inhaltliche Anmerkungen:
(1) Die Sache mit den Sprachen ist nach meiner Auffassung deutlich komplizierter. Wir haben uns im letzten Semester im Seminar "Wissen in der modernen Gesellschaft" http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/SeminarWissen/WS08 dieser Frage von einer anderen Seite genähert, der Frage nach dem Charakter von Information und Informationsprozessen. Dort spielt klassisch die Trias von Syntax, Semantik und Pragmatik eine Rolle, die wir um eine vierte Ebene "Hermeneutik" erweitert haben. Dabei stellt sich heraus, dass stets *zwei* Sprachsysteme beteiligt sind, denn Pragmatik/Hermeneutik ist die Syntax/Semantik auf der nächsthöheren Ebene. Das ist in der Wissenschaft sicher nicht anders. Hier passieren also nicht nur horizontale Übersetzungsprozesse a la Luhmann (von einer Sphäre in eine andere), sondern auch vertikale.
Ich kann das hier nur andeuten, wäre mal genauer drüber zu diskutieren.
(2) Die Krise des parteiendemokratischen Systems sehe ich durchaus ebenfalls. Dahinter steht aber die Steuerung von Gesellschaft über Geldströme in dem Sinne, wie ich das versucht habe, in Dahlen zu erläutern. Dahinter steckt aber - in *dieser* Gesellschaft - das Funktionieren von Fortschritt schlechthin.
Auch hier die Frage, ob das System abgeschafft gehört oder allein die archaische Form, in welcher es sich bewegt.
Florian Krahmer, 28.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/d451b909243d9eb2
Ingo Groepler-Roeser, 28.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/ea5367362bd35649
- 2. verschiedene Revolutionen in Subsystemen kumulieren zur Makro-Revolution
- 3. verschiedene Makro-Revolutionen führen zur Evolution der Menschheit
Ich bin mir nicht sicher, ob Revolutionen kumulieren können. Etwas anderes: Lenin etwa (der ist mir aber suspekt, sein Bart war cool) sagt, ... wenn die Zeit gekommen ist... und ich würde meinen, sie ließe sich befördern, halte das aber für illegitim. Im Staatsbürgerkundeunterricht hatte ich deswegen Streß, weil die Kommunisten immer versucht haben, darüber nicht zu sprechen, damit sie ohne Verantwortung bleiben - also wie heute auch: Anheizen durch Verhindern und dann Rückzug aus der Verantwortung.
Nur mal nebenbei...
Florian Krahmer, 28.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/bdb3846f2628dda2
Zur Anmerkung der Sprache betreffend. Hermeneutik ist mir auch schon bei Rorty aufgefallen und auch da habe ich mich gefragt wie Übersetzung funktionieren kann, ob es etwas Vergleichendes Drittes zwischen zwei Sprachen gibt, bzw. Menschengruppen. Die Übersetzung nicht nur horizontal, vertikal sondern auch temporal betreffend.
Zu zweitens, ich weiß nicht ob die Steuerung über Geldströme allein verläuft, sondern auch über eine Abstraktere Form - über Macht, welche nicht allein an Geld gebunden sein muss. Aber auch in Macht steckt für mich "das Funktionieren von Fortschritt schlechthin." Die Frage, die ich mir stelle, ist nicht, "ob das System abgeschafft gehört", sondern ganz ohne Wertung, ob das System abgeschafft wird.