WAK.2008-01-09

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Das Erdmännchenprojekt
Lesung aus dem gleichnamigen Buch von W. Schallehn (Leipzig)

Eine Veranstaltung der BGr. Wissenschaft Leipzig

Ort und Zeit: 09. Jaunuar 2008, 18:30 Uhr, Harkortstraße 10

Literatur

W. Schallehn: Das Erdmännchen-Projekt. Drei Fundametalblöcke für globale Weltverbesserer. Konsenskultur - Entwicklungspsychologie - Projektmanagement. Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2007. isbn13 978-3-86703-450-0

Über das Buch

Autor: W. Schallehn

Ein Buch, das auf neue Art Optimismus gewinnt aus dem, was Menschen können.

Zugegeben, die heutige Machbarkeit gibt mehr Grund zu Sorge als zu Optimismus. Der technische Fortschritt brachte zwar vielen eine attraktive Lebensqualität. Aber es scheint sicher, dass er in der heutigen Tendenz auf eine Zerstörung der Natur und letztlich auf eine Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation hinausläuft.

Ein Buch für Menschen, die die vorgeblich „menschlichen“ Triebkräfte dieser Selbstzerstörung, also Gier und Sucht, Skrupellosigkeit und Machbarkeitswahn für eher unmenschlich und überwindbar ansehen.

Ein Buch für die Leisen, die Verantwortungsbewussten, die Vorausschauenden – die von den Lauten, den Skrupellosen, den Kurzsichtigen bisher immer wieder übertönt und vergewaltigt, in Kriege und andere Katastrophen hineingezogen wurden.

Ein Buch, das neben den destruktiven Spannungsbogen der aktuellen Literatur „zwischen Ohnmacht und Orgie“ einen konstruktiven Spannungsbogen „vom Leidensdruck zum Lösungsansatz“ errichten will.

Ein Buch, das die heutige Kommunikationstechnik als materielle Grundlage einer zeitgemäßen Konsenskultur erschließt – die jetzt auf neuem Qualitätsniveau nötig und auch möglich ist.

Ein Buch, das die bedachten Leisen, die Verantwortungsbewussten, die Vorausschauenden auffordert, ihren Konsens zu manifestieren.

Ein Buch, das den Leisen, den Verantwortungsbewussten, den Vorausschauenden das Bewusstsein stärken will, dass nur ihre Konsenskultur die künftige Entwicklung einer menschlichen Zivilisation sichern kann – als notwendige(!!) Alternative zur kapitalgesteuerten „bürgerlichen“ Politkultur.

Ein Buch, in dem als zentrales Prinzip einer solchen Konsenskultur ein „qualifizierter Konsens“ folgendermaßen definiert wird:

  1. Der Gegenstand des Konsens, also z.B. ein Parteiprogramm, oder ein EU-Reformvertrag, oder ein Projektvorschlag oderoderoder wird in konkrete Einzelaussagen strukturiert.
  2. .Jede(r) Beteiligte fixiert zu jeder Einzelaussage die Zustimmung oder Ablehnung auf einer einfachen Skala. Dies ist mit heutiger Technik „lesebegleitend“, also mit sehr geringem Aufwand, möglich.
  3. In der Auswertung werden Konsens und Dissens zu allen Einzelaussagen dargestellt.
    Damit wird eine faire Behandlung von Minderheitsvoten ermöglicht. Andererseits entfällt dadurch die Notwendigkeit von Kompromissformeln, die oft reale Widersprüche verdeckt und deren Triebkrafteffekte beeinträchtigt haben. Entwicklung des Konsens wird sichtbar und wirksam.
  4. Die Einzelaussagen werden durch Erläuterungen und Begriffsdefinitionen gestützt.
    Diese wiederum können und sollten Konsensgegenstand in Kreisen von spezialisierten „Beteiligten“ sein.

Ein Buch, das die hohen Anforderungen an die „Menschen als höchstentwickelte Lebensform“ deutlich macht: Konsens alleine hilft nicht weit – erst eine kompetente Umsetzung in konkrete Projekte bewirkt etwas. Dazu gibt das Buch einen kurzen Einstieg. Und auch ganz wichtig: die phänomenale Lernfähigkeit des menschlichen Nachwuchses muss kompetent gefüttert werden, dafür hilfreich sind z.B. die bislang unter­schätzten Stufenkonzepte des Sozialverhaltens aus der Entwicklungspsychologie.

Ein Buch, das freilich auch eine entschiedene Absage an jegliche Freiheitsduselei enthält – sowohl an die neoliberale Freiheit, ihre Kapitalmacht „frei“ einzusetzen, wie auch an eine linke „Freiheit“, sofern sich diese gesellschaftlicher Verantwortung und Verlässlichkeit entzieht. Ein Buch, das vor allem die junge kritische Intelligenz aufrütteln will, sich weder in spirituelle Resignation noch in rechthaberische Hahnenkämpfe (alter?) Dogmatiker um Deutungshohheiten und Dominanzgehabe verwickeln zu lassen. Und auch implizit auffordert, die Sprüche der jungen Wilden wie „an die Wurzeln gehen“ und „die Gesellschaft zum Tanzen bringen“ auf ihre reale Substanz und Wirkung zu hinterfragen...

Ein Buch, das die (mindestens!) fünf Seelen, die wir alle so oder so in unserer Brust tragen, mit der Stimme fiktiver Erdmännchen-Personen sprechen lässt – in der Hoffnung, dass es niemals so weit kommen wird!

Bericht und Nachbemerkungen

Auch wenn es in der Lesung mit verteilten Rollen vor allem um die Frage ging, wie sich unter den "zukünftig unseren Planeten als höchste Lebensform bevölkernden Erdmännchen" eine Konsenskultur zu verschiedenen allgemein interessierenden Fragen entwickeln lässt, so kam die anschließende Diskussion schnell wieder auf eine Generaldebatte.

Das vorgeschlagene Modell der Abstimmung über 'Texe', welches nach Schallehns Vorstellungen zentraler Baustein einer Konsenskultur sein müsste, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Die Idee sei hier trotzdem kurz reproduziert: Keine Abstimmung über ein Dokument im Ganzen, sondern dessen Zerlegung in Sinneinheiten, eben 'Texe', über die einzeln abgestimmt wird und so zu erkennen ist, zu welchen Aussagen des Gesamtdokuments ein wie hoher Übereinstimmungsgrad erreicht wurde. Auf der Basis können Diskussionsstränge intensiviert und so die Qualität der Dokumente erhöht werden.

Ein solches Verfahren - technisch heute durchaus im Bereich des Möglichen - würde sich etwa für die programmatische Debatte der Linken anbieten. Offensichtlich wird der Wert einer solchen Debattenkultur gegenüber dem Wert verabschiedeter programmatischer Dokumente in verschiedenen linken Kreisen unterschiedlich eingeschätzt, wobei die Wertschätzung verabschiedeter Gesamtdokumente zu steigen scheint, je weiter man in den parlamentarischen oder Vorstands-Betrieb eingebunden ist.

Dieses politische System reproduziert sich allerdings gerade über derartige Mechanismen, so dass radikale Kapitalismuskritik - die an diesem Abend in vielen Tönen zu hören war - sich Adornos berühmter Frage stellen muss: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Kann man dieser Gesellschaft überhaupt mit Konsenskultur beikommen oder hat sie uns damit nicht bereits "assimiliert", wie es bei den Borgs heißt?

Wenn ich Schallehn recht verstanden habe, so ist sein Ausgangspunkt aber auch nicht so sehr radikale Kapitalismuskritik als vielmehr die Frage nach den psychologischen und kulturellen Wurzeln einer Entwicklung, welche die Menschheit zugleich an den Rand des eigenen physischen Untergangs manövriert hat. Dies geht über Kapitalismuskritik hinaus und setzt auch den Fokus anders als nur auf eine Veränderung der Herrschaftsverhältnisse.

Ein solcher Blick tut Not - hier ist Schallehn kaum zu widersprechen. Geht es dabei allerdings primär um unsere Debattenkultur oder steht nicht vielmehr die ganze industriegesellschaftliche Art der Produktion der eigenen Lebensbedingungen auf dem Prüfstand? Ist es dafür nicht höchste Zeit, "vom materialistisch-mechanistischen Weltbild zum geistig-lebendigen Kosmos" [1] überzugehen? Weisen die "Folgen der modernen Einsichten für unsere Erfahrungswelt" nicht auf die "Unzulänglichkeit einer materialistisch-mechanistischen Beschreibung" der Welt [1] hin?

Deshalb ist für mich fraglich, ob das vorgeschlagene Modell der Konsensfindung, das ja seinerseits ein technizistisches ist und auf Mechanismen mehr Wert legt als auf Inhalte, der Problemlage angemessen ist. Oder anders: Muss es nicht die Art der Inhalte und die Menge der Akteure sein, die sich darüber verständigen - und dies in den meisten Fällen im wahrsten Sinne des Wortes "ausfechten" -, in welcher Art und Weise Konsens hergestellt wird? Ist es also eine andere Konsenskultur, die eine andere Gesellschaft ausmacht, oder nicht umgekehrt eine andere Gesellschaft die Voraussetzung, in der erst eine andere Konsenskultur möglich ist?

Ergibt sich das Ziel also erst, wenn wir uns auf dem Weg gemacht haben? Wenn das so ist, so lasst uns aufbrechen und sehen, dass "eine andere Welt möglich" ist, ohne das Wie schon heute zu detailliert vorwegnehmen zu wollen!

[1] - Potsdamer Denkschrift des VDW. Veröffentlicht zum Einstein-Jahr 2005. http://www.vdw-ev.de/manifest

Hans-Gert Gräbe, 14.01.2008