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HGG.Kommentare

Rainer Land: "Kann man Entwicklung messen?" In Berliner Debatte Initial 25 (2014), S. 132-143


So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: "Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!" Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese.
"Aber er hat ja gar nichts an!" sagte endlich ein kleines Kind. "Hört die Stimme der Unschuld!" sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

"Aber er hat ja gar nichts an!" rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: 'Nun muß ich aushalten.' Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.
(Quelle: http://www.maerchen.net/classic/a-k_kleider.htm)

Rainer Land demonstriert ein weiteres Mal das Dilemma eines guten Teils der heutigen traditionsmarxistischen Ökonomieliteratur - Ignoranz gegenüber grundlegendem methodischen Handwerkszeug und Selbstgenügsamkeit, wenn nicht gar Selbstgefälligkeit eines referentiell weitestgehend abgeschlossenen Argumentationsgebäudes, das ich anderenorts als "traditionsmarxistische Mantras" bezeichnet habe. Dieses Urteil, das sei vorab betont, bezieht sich allein auf das Niveau der Sach-Argumente - inwieweit Lands Aufsatz als ideengeschichtliche Analyse den Arbeiten von Ruben und Wagner gerecht wird und ob dies vielleicht sogar der Hauptfokus der Arbeit ist, steht hier nicht zur Debatte.

Ein solch hartes Urteil möchte natürlich (ein weiteres Mal) begründet sein - der Sarkasmus über die methodische Unbedarftheit, der in Samuelsons gerade in der traditionsmarxistischen Literatur gern zitierten Bonmot [1] über die Radiergummimethode zur Lösung des Transformationsproblems mitschwingt, scheint Traditionsmarxisten im Überschwang ihres Überlegenheitsgefühls über "bürgerliche Wissenschaft" nie gestört zu haben.

Schauen wir also, was Rainer Land (2014) gegenüber Sraffa (1960) oder gar Marxens Reproduktionsschemata (Kapital, Band 2, von Engels 1893 herausgegebene Version in MEW 24) methodisch zu bieten hat, welche Qualität also jenes Mäntelchen hat, in das seine weiteren Argumente gehüllt sind, und Mäntelchen welcher Qualität heute als Stangenware zu haben gewesen wären.

Die Semantik dessen, was Rainer Land unter Verwendung mathematischer Zeichen anschreibt, bleibt vage, etwa der Unterschied zwischen (1) "240 A" und (2) "240 [A]", der in Fußnote 6 spannend erläutert ist in Termini von "Produktionshandlung" (1) und "Vergleichsoperation" (2). (1) ist so nur als Rechnung zu verstehen, in der Äpfel, Birnen und Pflaumen "addiert" werden, das '+' also wohl am ehesten als String-Konkatenation zu interpretieren. "Vergleichsoperationen" sind dem Mathematiker da ein schon näher vertrauter Begriff - Addition und Multiplikation gehören allerdings im gemeinen Verständnis nicht dazu. "Die Ergebnisse dieser Vergleichsoperationen sind mathematische Ausdrücke, Gleichungen bzw. Ungleichungen, das Ganze ein Gleichungssystem, eine Matrix." heißt es weiter in der Fußnote. Aha. Ob die gelehrten Begriffe in dieser Konstellation einen Sinnzusammenhang ergeben, scheint den Autor weiter nicht zu kümmern. Muss es auch nicht - Gleichungssysteme und Matrizen kommen im Text nicht vor.

Methodische Standards einer Theorie der quantitativen Verflechtungsbilanzen von Produktionsfaktoren, wie sie sich von Marxens Reproduktionsschemata über Sraffas "Produktionsgleichungen" (so Ruben/Wagner im abgedruckten Faksimile) bis hin zu Leontieff-Matrizen und modernen Verflechtungsrechnungen auf volkswirtschaftlicher Ebene einerseits (destatis [2]) und betriebswirtschaftlicher Ebene andererseits (jeder Betrieb mit ausreichend leistungsfähigem Produktionsplanungssystem) scheinen Rainer Land ebenso wenig zu interessieren wie aktuelle Notationsstandards einer solchen Theorie, siehe etwa [3] oder [4]. Und wem derartige Quellen einer "linksbürgerlichen Ökonomietheorie" vom Schlag der Chemnitzer Helmedag-Schule suspekt erscheinen (etwa, weil dort jüngst auch eine Sahra Wagenknecht promoviert wurde - mit einer spannenden Arbeit [5] auf hohem methodischen Niveau), der mag das einschlägige Lehrbuch über "Input-Output-Analyse" [6] von Peter Fleissner u.a. aus dem Jahr 1993 zu Rate ziehen, das sich der Thematik mit dem Anspruch einer marxistischen Arbeitswerttheorie nähert.

Da wird dann auch schnell klar, was jene bei Rainer Land nicht einmal verschämt in der Fußnote aufgerufene Matrix A der technischen Verflechtungskoeffizienten ist - eine Make-Use-Matrix. Sie kodiert die realweltlichen technologischen Bedingtheiten einer industriellen Massen(!)-Produktion gleichartiger (!) Artefakte verschiedener Typklassen. Jede Typklasse T_i kommt dabei mit einem eigenen Maß M_i (Tonnen Eisen, Pfund Mehl, Gramm Hefe, Stück BMW i3, ...) und die materielle Verflechungsbilanz lautet x_2=A*x_1 - will man am Ende der Produktionsperiode x_21 Tonnen Eisen, x_22 Pfund Mehl, x_23 Gramm Hefe ... haben, so muss man am Anfang x_11 Tonnen Eisen, x_12 Pfund Mehl, x_13 Gramm Hefe ... bereitstellen. Die Gesamtkosten ergeben sich durch Linksmultiplikation mit dem Preiskoeffizientenvektor p zu Kosten = p*A*x. Die (allerdings wirklich allererste unreflektierte) Basisgleichung einer sinnvollen Kostenanalyse als Basis und Target einer (Arbeits)-Wertrechnung lautet damit p_2=p_1*A mit Preisniveaus p_1 und p_2 am Anfang und Ende der Produktionsperiode und derselben Matrix A. Wie weit eine jede Wert- auch eine Preisrechnung sein muss (Samuelsons Forderung) oder ob man beides streng getrennt anschauen kann, ist oft und kontrovers diskutiert worden. In [3] wird das umfassend aufgearbeitet, in [4] ein unifizierender Zugang entwickelt, der beide Perspektiven in die Sprachwelt der Leontieff-Matrizen übersetzt. Das muss hier nicht vertieft werden.

Halten wir stattdessen eine weitere Trivialität fest: Die Analyse der Verflechtungskoeffizienten liefert in jedem Fall nur Momentaufnahmen eines (Teil)-Verflechungsverhältnisses moderner Produktion als Zeitscheiben ("Fasern" in der Theorie der Vektorbündel) in einem höherdimensionalen Raum der Produktionsparameter (eine Dimension pro Typklasse). Die Dynamik solcher Systeme wird überhaupt erst über eine Theorie der Schnitte in solchen Vektorbündeln sprechbar - wenigstens insoweit man sich auf einer methodischen Grundlage in der Tradition Sraffas bewegt.

Steady-State-Ansätze mit ceteris paribus Variationen - mehr habe ich in der traditionsmarxistisch-ökonomischen Zeitschriftenliteratur bisher nicht gesehen und auch Rainer Land verlässt mit seinen Beschreibungsversuchen von "Überschussproduktion" und den verschiedenen Formen "erweiterter Reproduktion" nicht einen solchen Rahmen - führen auf homogene lineare Gleichungssysteme der Art (A-E)*x=0 (x_1=x_2) bzw. p*(A-E)=0 (p_1=p_2), deren Lösungen bekanntlich überhaupt nur bis auf einen skalaren Faktor bestimmt sind. Ein solcher skalarer Faktor koppelt die "realen" Preisniveaus zweier benachbarter Zeitscheiben unter allen denkbaren Kombinationen, seine Dynamik ist die eines Schnitts in abgeleiteten Kategorien des betrachteten Vektorbündels, ergibt sich also in keiner Weise allein aus den Reproduktionsgleichungen selbst. Kurz, die Argumente von Rainer Land sind bereits auf methodischer Ebene nicht geeignet, mehr Licht in die von ihm betrachtete Angelegenheit zu bringen.

Abschließend sei bemerkt, dass in der Theorie der Leontieff-Matrizen nur sächliche Produktionsfaktoren berücksichtigt werden, der wichtigste Produktionsfaktor aber vollkommen ausgeblendet ist - der Produktionsfaktor Mensch. Hier ist auch einer der großen blinden Flecken der Marxschen Arbeitswerttheorie zu verorten - durch die frühzeitige Reduktion aller Arbeit auf "einfache Arbeit" fallen bei Marx die Arbeitswertkoeffizienten f aus der Rechnung heraus, die eine dem Preiskoeffizientenvektor p analoge Rolle spielen, wenn man nicht nur standardisierte Vorprodukte, sondern auch standardisierte Arbeiten in Anrechnung bringt. Ein entsprechender theoretischer Ansatz ist in [7] genauer entwickelt.