HGG.2018-09

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HGG.Kommentare

Eine Diskussion mit Alfred Fuhr auf Facebook zu Chemnitz und all dem

Alfred Fuhr hat einen Link geteilt:

"Sachsen tickt mehr wie Polen oder Ungarn"
Woher kommt der Hass der Menschen, die in Chemnitz demonstrieren? ...

Alfred: Und wenn die Medienhysterie dann etwas abgeflaut ist, die Berufsdemonstrierer von rechts dann weiter ziehen zum nächsten Anlass, dann reden wir mal über die Probleme von jungen, hippen, teuren Schwarmstädten wie Chemnitz, Leipzig, Dresden im deutschen Osten, ja? https://www.presseportal.de/pm/24964/3883671

HGG: Woher kommen die Menschen, die in Chemnitz demonstrieren?

Alfred: Tja. gute Frage. 8000 Demonstranten hinter Pro Chemnitz, Trauernde sollen es gewesen sein - Da ziehen wir mal die organisierten Rechten ab, dann vergleichen wir das mal mit der Zahl von Fussballfans, die die 2. Liga durchschnittlich bei Auslandsspielen aufbringt, plus einige Menschen, die aus dem Umland in die Stadt kamen, weil es dort was zu sehen gab. Aus eigener Erfahrung bei O-Tönen drehen, da sag ich dir, dort wo viele Filmkamerateams aus dem In- und Ausland sich in der Stadt aufgebaut haben, da scharen sich sofort immer Neugierige herum. Vergleicht man nun diese restliche Zahl mit dem Mobilisierungsgrad für Trauer über Mordopfer in der modernen Gesellschaft, der sehr gering, sehr lokal und selten - weil von den Angehörigen nie gewünscht - zu politisieren ist. Doch das interessiert weder die rechten Akteure, noch die Medien oder gar die Gegendemonstranten. Chemnitz ist soziologisch ein parasoziales Projektionsspektakel, das nach der Medienlogik immer ein Stück weiter gedreht werden muss, wenn es noch Aufmerksamkeit und Quote bringt. Und alle drehen an diesem Rad. Tagelang. Und nur so lässt sich auch der kommunikative Eiertanz erklären, der um die Chemnitzer Bürger, und die Frage, ob sie Nazis sind oder nicht, erklären. Was fehlt, sind belastbare sachliche empirische unbarmherzige Blicke auf die Verhältnisse vor Ort, die Schwarmstadt und ihre soziale Struktur. Das interessiert aber die Arbeitenden im real existierenden politisch-medialen Aufmerksamkeitskomplex sowie die Politprofis und ihre Spin doctors nicht. Der öffentlich-rechtliche Bildungsauftrag degeneriert zur Meinungsverstärkung. Zu Chemnitz wäre es aber hilfreich, solche Studien zu Schwarmstädten und dem Anomiepotential bzw. der besonderen Struktur dieser neuen Schwarmstädte im Osten zu verbreiten, denn diese wurden ja genau zu diesem Zweck mit Steuergeldern und von Wissenschaftler*innen angefertigt, um die Verhältnisse zu verstehen, mit Wirklichkeitswissenschaft. http://web.gdw.de/.../Schwarmstaedte_GdW_2015_07_1.pdf

HGG: Lieber Alfred, ich kenne deine theoretischen Vorlieben. Aber meinst du nicht, dass du hier vollkommen inadäquat Sichten ("neue Schwarmstädte im Osten") rein projizierst, die einer selbst oberflächlichen Kritik schlicht nicht standhalten?
Wenn man nicht mal weiß, woher die Menschen kommen, die in Chemnitz demonstrieren, wie will man dann die Frage beantworten, woher der Hass dieser Menschen kommt?
Vielleicht doch mal wieder bei Georg Lukácz "Die Zerstörung der Vernunft" rein schauen? Allerdings sollte man das Buch schon selbst und nicht nur die Rezension bei Wikipedia lesen.

Alfred: Lieber Hans, genau richtig. Denn es geht mir eben nicht um den Mord oder den Totschlag, nicht um Messerkämpfe und den Hass, die Gegendemos und den ganzen Rest. Sondern ich weise auf die objektiven empirisch feststellbaren Probleme von Schwarmstädten wie z.B. Chemnitz im Osten hin. Die Verbindung von Problemen, die nicht thematisiert werden, mit dem Phänomen der Modernisierungs- und Globalisierungsgewinner, dem "Verlierer Baby", das Kraftclub besingt. Denn die Medien kommentieren ja auch selbstbewusst zu wissen, "was die Stadt jetzt braucht". Auf welcher Wissensgrundlage und mit welcher Kompetenz? Hinfahren wird nicht reichen, es braucht da schon mehr, um die soziale Realität dort zu erfassen. Das ist meine Kritik. Nachvollziehbar?

HGG: Lieber Alfred, ich finde, dass eure Soziologenart der "theorielosen Empirie" - wie ich es einmal in einem Aufsatz formuliert habe - methodisch nicht mehr als wissenschaftlich verbrämte Kaffeesatzleserei ist. Der deutsche Psychiater (so "Die Welt", aber trifft es das?) Hans-Joachim Maaz hat sich zu Chemnitz ebenfalls vielfach geäußert (nicht zuletzt am 5.9.2018 in der LVZ) mit deutlich anderen Thesen. Schade, dass du den Lukácz nicht thematisierst, denn wenn ein Regierungssprecher Seibert von "Zusammenrottung" spricht, dann erinnert das einen gelernten Ossi wie mich hart an die "Zusammenrottungen feindlich-negativer Kräfte" seligen Angedenkens. Also vielleicht hat Maaz ja recht, und nicht die Chemnitzer, sondern die Kritiker der Chemnitzer gehören auf die Couch. Heute ebenfalls in der LVZ mehr zu einem neuen Buch der sächsischen Integrationsbeauftragten Petra Köpping "Integriert doch erst mal uns!". Vielleicht solltet ihr Soziologen da doch mal aus eurer Filterblase rauskommen, oder?

Alfred: uijuijui, ..., da bricht ja was raus, da trete ich erst mal beiseite, denn ich bin gewiss weder theorielos, noch ein Chemnitzkritiker.

HGG: "Theorielose Empirie" bezieht sich in meinem Aufsatz auf die (weit verbreitete und in Mainzers Buch ausführlich kritisierte) "wissenschaftliche" Methode, zu Datenmustern Sprache zu erfinden und nicht umgekehrt Theorie auf erhobenen Daten zu verifizieren.

Alfred: Tja, so bleibt es bei der beunruhigenden Frage, warum ausgerechnet Soziologie und empirische Forschung und Aufklärung nach dem Ende der kollektiven Utopien in jeder Vergemeinschaftung die Saat der Individualisierung suchen und umgekehrt, welche kollektivierenden Nebenfolgen jeder neue Individualisierungschub hat. Soziologisch wäre es nicht ganz unnütz mit der Einsicht in diese DIALEKTIK den Illusionen der neuen und alten großen nationalistischen Verheißungen zu entkommen. Frankfurter Soziologe stellt die These auf, nicht Verheißungen, sondern Ernüchterung produziere die Soziologie, auch wenn Erlösungsphantasien prominenter sind. Isso.

Georg von Nessler: Gerade wir in Deutschland sollten in jeder Hinsicht Lehren aus der Geschichte ziehen, um so Zukunft gemeinsam zu gestalten. "ZUKUNFT ERINNERN".

HGG: Lieber Georg, ich bin ein großer Anhänger der Methode, "in jeder Hinsicht Lehren aus der Geschichte ziehen, um so Zukunft gemeinsam zu gestalten". Unter Marxisten bezeichnet man diese Methode auch als historischen Materialismus, und anerkannterweise war es Marx, der diese Methode um 1844 herum im Vormärz, Hegel und Feuerbach weiterentwickelnd, erstmals systematisch ausarbeitete. Dazu gibt es mit der neuen MEGA-Ausgabe der "Deutschen Ideologie" gerade ein Flut von Aufsätzen. Lukácz analysiert in seinem Buch die Differenzen zu dieser Methodologie und die praktischen Bewegungsformen der "Irrationalismus" ausführlich. Wie weit er dabei genügend ausgewogen Philosophiegeschichte schreibt, sei dahingestellt. Ob das Gefasel von "Schwarmstädten" einer solchen Methodologie genügt, wage ich stark zu bezweifeln. Aber wahrscheinlich bin ich ja auch einfach zu blöd. Aber ich habe nicht vor, das bei Facebook vertieft zu diskutieren. Dafür müssten wir einen anderen Ort und vielleicht auch eine andere Form finden, wenn es denn überhaupt von Interesse ist.

Alfred: Gerne können wir an anderer Stelle uns über die Modernisierungsrisiken von Schwarmstädten und die Dialektik von Individual- und Rückbindungsphänomen in Theorie und Praxis und in voller Weltteilnahmelust konstruktiv austauschen. Heute nacht habe ich zufällig eine Sendung auf Deutschlandfunk verfolgt, ein Format, wo sich nur Sachsen mit Sachsen über Chemnitz, über Sachsen, unterhielten, die Sendung wurde moderiert vom DLF, und einer Moderatorin, die nicht aus Sachsen stammte, was auffiel. Daher empfehle ich diese Hörfunksendung allen zu dem Thema Chemnitz, auch wenn die Sendung ein Mitschnitt einer Veranstaltung in Dresden war. Zu dem was Soziolog*innen können, was andere nicht können, außer durch Theorie im Kaffeesatz der Geschichte lesen zu können, das können sie nämlich auch, und schlechten Journalismus abliefern noch dazu! Also zu diesem Komplex empfehle ich meinen Freund Karl. Karl Otto Hondrich, sein kleines Buch über die "Liebe in der Weltgesellschaft" und warum Soziologie eben weniger Verheißungen produzieren sollte, und nicht nur die Individualgesellschaftsthese verbreiten sollte, sondern nüchterne Studien. Für einen Soziologie affinen Informatiker, wie Hans-Gert Gräbe, den ich sehr schätze, für den ist Herr Schirmer mit Gewinn zu lesen, und gerne stehe ich auch wieder mal in der Bütt, um die parasoziale Fiktion zu erläutern, der die Menschen im Osten und im Westen der neuen deutschen Berliner Republik ausgesetzt sind.

HGG: (4 Tage später) 4 Tage hornalt die Sache, da ist der Alfred schon gaaanz woanders und das hier unter Tonnen neuer Tweets begraben. Und wen interessiert schon hornaltes Geschwätz ... Mail im Spamordner, vermute ich weiter. Deshalb nur kurz zu Werner Schirmer: Auch er lässt die Frage links liegen, wie die Soziologie mit ihrer Gratwanderung zur Legitimationswissenschaft umgeht. Ob man das mit Luhmann sinnvoll besprechen kann oder gar über "Liebe in der Weltgesellschaft", wage ich allerdings zu bezweifeln.

Alfred: Tja. Zweifel bleiben ja immer. Das müssen wir beide ja nicht alleine entscheiden, und bitte bleib mir weg mit Luhmann, please. Ich halte ihn für ein traumatisiertes Weltkriegsopfer, das einfach mal alles, was die Theorie stört, also den Menschen, aus seinen Büchern und seinem akademischen Leben eliminiert hat. Kann zu Desorientierung und Schrat-Verhalten führen. Ich halte seine Theorie für gescheitert, aber sie ist nun mal in der Welt und wirkt. Aber mit der Liebe in der Weltgesellschaft von Hondrich und anderen Autoren, die keine Angst vor Paradoxien und Paradigmenwechseln haben, vor allem aber mit deiner Weltteilnahmelust und dialektischen Sichtweise auf den menschlichen Zoo, im Dorf Wiki und der Weltgesellschafft rund um Leipzig, und dem interdisziplinären Ansatz in deinem Seminar, da kann ich gut mit. Aber ich hänge hier festgetackert mit Aufgaben zugeschüttet, und voll Elan im Rhein-Main-Gebiet rum. Mit dem Ich-Kern, as a sociologist, das weisste selbst, eher so mittel. Grüß mir den Ken, und den Kant. Und den Karl. Und den Georg.