HGG.2018-03
Eine umfangreichere Argumentation hierzu ist in Z 115 (sept. 2018) erschienen.
Der Einzige und sein Eigentum
Winfried Schwarz berichtet in Z 113 über Arbeiten an einer neuen Edition der "Deutschen Ideologie". Nun bin ich kein Marx-Exeget, sondern Informatiker, und kann die mit dieser Herausgabe verbundene editorische Leistung sicher nicht angemessen würdigen. Es fällt allerdings auf, dass noch immer und immer wieder allein das Feuerbachkapitel im Fokus steht, während doch selbst im "Klassiker" (MEW 3) der "St. Max" zwei Drittel des Textes ausmacht. Dagegen ist selbst "St. Bruno" thematisch nicht mehr als eine Fußnote. Schwarz weist darauf hin, dass die neueren editorischen Forschungen zeigen, dass in der Tat vor allem die Auseinandersetzungen mit St. Max wesentlich für die Formulierung des Feuerbachkapitels waren. Er geht aber leider nicht darauf ein, warum der Rest auch heute noch von der rezenten Marx-Exegese, wenigstens von der in Z vertretenen Hauptströmung, der "nagenden Kritik der Mäuse" überlassen bleibt.
Editionsgeschichtlich werden von Schwarz die Jahre 1844-1847 rekapituliert. Es war vor allem ein Buch, das in jenen Jahren in diesen Kreisen für Furore sorgte - das 20 Jahre vor dem "Kapital" ebenfalls bei Otto Wigand in Leipzig gedruckte Buch "Der Einzige und sein Eigentum" von Max Stirner. "Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit [...] Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. 'Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!'" Stirners glühendes Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der inneren Verfasstheit einzelner Menschen gegenüber dem externen, analytischen Blick eines Marx, Engels oder Feuerbach auf den Menschen (und sei es als Gattungswesen) stellt Stirner eingangs der ersten Abteilung Folgendes voran: "Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen, sagt Feuerbach. Der Mensch ist nun erst gefunden, sagt Bruno Bauer. Sehen Wir Uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an."
Wenn Marx und Engels selbst meinen, man könne diese Manuskripte getrost "der nagenden Kritik der Mäuse" überlassen, "als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten - Selbstverständigung", so trifft dies sicher auf das Feuerbachkapitel zu, aber auch auf die Fragen des St. Max? Welche Rolle spielt der "individuelle Faktor" in einer technisch immer potenteren Welt? Wie funktioniert "technischer Fortschritt", für den Ernst Bloch "Verluste im Vorwärtsschreiten" diagnostizierte? Hat Stirners Aufschrei etwas mit derartigen Verlusten zu tun? Fragen über Fragen, zu denen Marx jenseits der bekannten Stellen im Maschinenfragment nie wieder zurück kam. So wenigstens Goldberg/Leisewitz in Z 108.
Welche Konsequenzen haben derartige Fehlstellen einer "marxistischen Erneuerung"? Kurt Fleming vom Max-Stirner-Archiv Leipzig veröffentlichte 2001 in Heft 13/14 und 15 seiner Vierteljahresschrift "Der Einzige" dazu eine Auseinandersetzung zwischen Fritz Erik Hoevels und Bernd Laska - zwei profunden Kennern der Literaturlage, auch wenn sie in der Zwerenzschen Kategorisierung zur Gilde der "heimatlosen Linken" gehören mögen. Ob Stirner ein "Quietist" (Hoevels) oder Marx gar ein "lärmender Quietist" (Laska) gewesen sei, kann nur in einem historisch-konkreten Kontext beurteilt werden. Dass es heute noch entschieden werden müsse - wie es in Laskas Replik durchschimmert - darf ebenso bezweifelt werden wie die Angemessenheit einer entsprechenden Attribution Stirners durch Hoevels. Dass man auch heute mit "falschen" linken Thesen schnell als "Rechter" verschrien ist, zeigt Hoevels "Aura" in der Linken.
Hat das Ganze heute noch eine Bedeutung angesichts des "digitalen Wandels"? Aktuelle Analysen konstatieren zunehmende gesellschaftliche Entflechungstendenzen, wachsende Bedeutung differenzierter Lebensentwürfe (Felix Stalder "Kultur der Digitalität") und von "Alleinstellungsmerkmalen" - der "Einzigkeit des Einzelnen". Ob eine solche "Einzigkeit" mit einem Eigentumsbegriff sinnvoll erfasst werden kann, und ob der nur historisch verständliche Eigentumsbegriff Stirners mit unserem rezenten Eigentumsbegriff, geprägt seit den 1980er Jahren auch durch die Wirkung einer "World Intellectual Property Organization" und ihrer Gegenspieler vor allem in der UNESCO, überhaupt noch etwas gemein hat, müsste eine genauere Debatte zeigen.
Die Virulenz der Problematik wurde nicht zuletzt in der Auseinandersetzung zwischen "Wikipedianern" und "Wikipedisten" auf der CPOV 2010 in Leipzig deutlich - die Innensicht praktischer Erfahrung (Wikipedianer) und die Außensicht kühler soziologischer Analyse (Wikipedisten) geraten oft genug hart aneinander. Ob ihre Selbstreflexionen nicht etwas simpel gestrickt seien, fragen die Wikipedisten die Wikipedianer wie seinerzeit Marx mit einem gehörigen Schuss Polemik den St. Max. Aus welchen praktischen Erfahrungen sie denn ihre Weisheiten nehmen würden und ob sie nicht von wohlfeilen Theorien ausgingen, deren Grundlagen von der technischen Entwicklung lange überholt seien, fragen die Wikipedianer zurück. Ein fruchtbarer Dialog braucht sehr langen Atem. Die "marxistisch erneuerte Linke" ist selten genug dabei.
Hans-Gert Gräbe, 16.03.2018