HGG.2015-06
Anmerkungen zum Vortrag "Big Data, Industrie 4.0 und Co. - Wie sich die Welt verändert" von Prof. Dr.-Ing. Peter Liggesmeyer am 11.06.2015 an der Uni Leipzig
Abstract des Vortrags:
Industrie 4.0 bezeichnet die vierte industrielle Revolution. Die erste industrielle Revolution war charakterisiert durch die Einführung der Dampfmaschine als neue Querschnittstechnologie. Diese Entwicklung hat fast alle Lebensbereiche drastisch verändert. Die zweite industrielle Revolution ist verbunden mit dem Namen Henry Ford. Mit ihr wurde die Massenproduktion durch die Einführung von Takt und Band ermöglicht. Fertigungsprozesse wurden in viele kleine Schritte zerlegt, einhergehend mit einer starken Standardisierung der Produkte. Die Massenproduktion von Gütern führte zu einer Preisreduktion, allerdings auf Kosten der Individualität, da Produkte in immer gleichen Prozessen gefertigt wurden. Die dritte industrielle Revolution war in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die weitgehende Automatisierung der Produktion. Manuelle Fertigungsschritte wurden zunehmend von computergesteuerten Maschinen übernommen, die Produkte schneller, präziser und in höherer Qualität fertigten, aber eben nach wie vor vereinheitlichte Massenprodukte. In der vierten industriellen Revolution geht man nun davon aus, dass man das Massenprodukt durch massenindividualisierte Produkte ersetzt, die an den Bedürfnissen des Kunden ausgerichtet sind.
Die Themen Industrie 4.0 und Big Data sind eng miteinander verwoben. Technisch gesehen kann man Big Data als einen wichtigen Aspekt der informationstechnische Seite zu Industrie 4.0 verstehen. Die Daten müssen in die Produktionsumgebung hineinkommen und dort korrekt verarbeitet werden. Der Produktionsprozess läuft nicht mehr schrittweise in der immer gleichen Weise ab, denn dann käme ja immer das gleiche Produkt dabei heraus. Die Produktionsumgebung muss vielmehr die Fähigkeit haben, auf sich ändernde Anforderungen einzustellen. Das kann nicht mehr wie bisher durch einen Menschen durchgeführt werden, sondern muss autonom geschehen. Die massenindividualisierte Produktion benötigt einen hohen Grad an Autonomie.
Sehr geehrter Herr Liggesmeyer,
ich komme auf Ihren gestrigen Vortrag in Leipzig zurück, dessen Argumentationszuschnitt mich doch etwas erstaunt hat, auch wenn Sie eingangs explizit darauf hinwiesen, Ihre Argumentation von drei Buzzworten her aufzuziehen.
Massenindividualisierte Produktion nun auch für den Consumerbereich ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, allerdings wenig innovativ, da dies im B2B-Bereich - mit Verweis auf Werkzeugmaschinenbau und noch mehr den Industrieanlagenbau - lange präsent ist. Hier manifestiert sich nach meinem Verständnis nur, was bei wichtigen technologischen Entwicklungen schon immer zu beobachten war - eine "Commodifizierung von Verfahrenswissen und -können" von den ersten Inventionen über Innovationen in den kapitalintensivsten Kernbereichen der Produktion bis zum Einzug in die Konsumgüterproduktion und letztlich den Alltag, wo das der "Consumer" mit einfachen Handgriffen und Gerätschaften selbst tun kann.
Wir haben übrigens in vielen Diskussionen im Rahmen der studentischen Ausbildung immer wieder festgestellt, dass in jedem dieser Commodifizierungsprozesse die Heimwerker-Hobby-Szene sowohl von dem dort versammelten technischen Interesse als auch der finanziellen Potenz zu einem gewissen Zeitpunkt eine wichtige Triggerrolle spielt, die von Prognosten meist sträflich unterschätzt wird. Die Beispiele auf ihren ersten Folien legen davon beredtes Zeugnis ab.
Beides - Industrieanlagenbau und Hobbyszene - funktionieren aber nicht, wenn es keine Basis aus standardisierten Komponenten gibt, die in ausreichender Menge und Funktionalität verfügbar sind, und setzt damit standardisierte industrielle Produktion fordistischer Organisation voraus. Also kein Paradigmenwechsel, zumindest nicht im Kuhnschen Verständnis des Begriffs, sondern Höherentwicklung. Übrigens setzte auch die Entfaltung von Industrie 2.0 eine bereits entfaltete Industrie 1.0 voraus.
Eine historische Betrachtung zeigt m.E., dass sich hierbei Phasen mit stärker technologisch-apparativen Innovationen und Phasen mit stärker produktionsorganisatorischen Innovationen zyklisch ablösen, die sich grob auf die (so bekannten wie umstrittenen) Kondratjew-Zyklen matchen lassen. Aus dieser Perspektive sind also immer zwei dieser Zyklen zusammen zu denken. Für einen solchen Zusammenhang ist Fords betriebsorganisatorische Innovation ein gutes Beispiel, denn die technologischen Voraussetzungen dafür sind bereits in den Jahren 1880-1920 gelegt worden, im "elektrisch-chemischen Kondratjew" mit Fritz Habers "Innovationen" an der Westfront als einer der ersten großen techno-ethischen Katastrophen der Moderne.
Diese Betrachtung legt nahe, dass es stets eine längere Phase der Symbiose zwischen neuer technologischer Basis und alter Art der Produktionsorganisation gibt. Deshalb nach meinem Verständnis auch "Industrie 2.1" statt "Industrie 3.0", wenn für Sie die "Industrie 2.0" erst mit dem produktionsorganisatorischen Durchbruch beginnt (oder eben "Industrie 3.1" statt "Industrie 4.0" - eine solche Sprechweise wäre aber nicht mein Favorit).
Etwas genauer zu einer solchen Begriffsbildung. Vorab: Ich fasse dabei den Begriff Technik im üblichen technikphilosophischen Verständnis als "Verfahrenswissen und Verfahrenskönnen" und nicht in der verengenden Sicht der einschlägigen VDI-Richtlinie 3780. Ein Begriff "Industrie", wo "Industrie 2.0" mit Fords Innovation beginnt, lässt sich auf dieser Basis fassen als "gesellschaftlich verfahrensmächtig gewordene Beschreibungsformen derartigen Wissens und Könnens, die systematisch produktionsorganisatorisch eingesetzt werden". In dieser Definition wird die Zweiteilung jeder "Industriephase" deutlich: 1) das gesellschaftliche Verfahrensmächtig-Werden im Kontext der "alten" Industrie und 2) die produktionsorganisatorische Durchdringung als "neue" Industrie.
Das liest sich dann für die bisherigen Industrien so:
Industrie 1.0: Es geht um die Beschreibungen von Wirkprinzipien für standardisierte Werkzeuge.
- 1) Vorphase im Schoße von "Industrie 0.0". Als Beispiel passt eher der Webstuhl als die Dampfmaschine, der als neue Technologie zunächst eine Symbiose mit alten Formen der Produktionsorganisation eingehen, was zu enormen Verwerfungen führt; Beispiel schlesischer Weberaufstand 1844.
- 2) "Industrie 1.0" beginnt mit der Entfaltung des Fabriksystems als produktionsorganisatorisch adäquater Form (standardisierte Arbeiter für standardisierte Werkzeuge).
Industrie 2.0: Es geht um die Beschreibungen von Wirkprinzipien für standardisierte Prozesse, in denen die Beschreibungen des standardisierten Verfahrenskönnens der Industrie 1.0 in Form von deren standardisierten Werkzeugen zum Einsatz kommen.
- 1) Vorphase im Schoße von Industrie 1.0, Beispiel Stahlherstellung. Die Symbiose der neuen Technologie mit der alten Produktionsorganisation in Form des Einzugs neuer Werkzeuge und Gerätschaften ins "alte" Fabriksystem 1880-1920 (hierzu sehenswert: Landwirtschaftsmuseum Landwüst). Siehe auch Jürgen Stahl: Konstruktion - Antizipation und gestaltende Fähigkeit des Subjekts. LIFIS-online 2014.
- 2) "Industrie 2.0" beginnt mit der Entfaltung der fordistischen Produktionsorganisation (die ohne ein bereits entfaltetes Fabriksystem nicht einmal zu denken gewesen wäre).
Industrie 3.0: Es geht um die Beschreibungen von Wirkprinzipien für standardisierte Metaprozesse, in denen Beschreibungen der standardisierten Prozesse der Industrie 2.0 (die Beschreibungen ihrer Ablaufformen eingeschlossen) zusammengebunden werden.
- 1) Vorphase im Schoße von Industrie 2.0, Erfindung des Computers in all seinen Schattierungen. Die Symbiose der neuen Technologie mit der alten Produktionsorganisation als "Kybernetik", im Osten treffender als BMSR (Betriebsmess-, Steuer- und Regelungstechnik) bezeichnet.
- 2) "Industrie 3.0" beginnt seit etwa 2005 an Fahrt zu gewinnen. Die Konzepte "Software" und "System" nähern sich an (bis hin zu den entsprechenden ISO-Normierungsprozessen)
Diese "Phase 2" der Computerisierung ist allerdings nicht voraussetzungslos, sondern benötigt eine mikroelektronische "Industrie 2.0" mit Beherrschung des zugehörigen Technologiestacks in ausreichender Tiefe. Im März 2015 organisierte LIFIS am ehemaligen ZMD in Dresden eine Konferenz
- Digitale Revolution und Industrie 4.0 im historischen Kontext
- 25 Jahre Entwicklungsabschluss des Megaspeichers in Dresden
Zur Erinnerung: Mitte der 1980er Jahre stellte die DDR-Führung fest, dass man (auch) die bis dahin gut gehenden Werkzeugmaschinen nicht mehr kostendeckend los wurde, da diese nicht in ausreichendem Maße mit prozessintegrierter Mikroelektronik ausgestattet waren. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Technologieprogramm "Mikroelektronik" als zentral-staatliches Programm mit erheblichem Ressourceneinsatz gestartet, in dem es nicht primär um die Produktion von Schaltkreisen ging, sondern (komplexer) um die Frage der Beherrschung des entsprechenden Technologielevels Fünf. Siehe hierzu die Vortragsfolien der einzelnen Referenten, darunter auch heute noch renommierte Leute wie
- Thomas Haase, FhG-IPMS, Dresden
- Jens Knobloch, FhG-IPMS, Dresden
- Dieter Landgraf-Dietz, Mitglied Silicon Saxony, Dresden
- Jörg Ludewig, vorm. MPD GmbH, Dresden
- Michael Raab, Globalfoundries, Dresden.
Das hatte man 1989 mit viel Aufwand geschafft und im Raum Dresden technische Kapazitäten auf "Westniveau" und damit Weltniveau geschaffen, die technologisch, allerdings nicht kostenmäßig mithalten konnten. Die Dresdner Region zehrt heute noch von diesen Entwicklungen, vor allem, weil kompetentes Personal noch immer da ist, was nach der Wende die Basis entsprechender Umstrukturierungen und Industrieansiedlungen war, die noch heute auf die Region ausstrahlen.
Zur Dresdner Konferenz, die federführend von Bernd Junghans, ehem. Forschungsdirektor am ZMD und heute LIFIS-Vorsitzender, organisiert wurde und am Fraunhofer IPMS, dem Nachfolger des ZMD, stattfand, waren sich alle Redner, insbesondere in der Podiumsdiskussion mit
- Jens Drews, GlobalFoundries, Dresden; Jürgen Berger, Bereichsleiter VDI/VDE Innovation + Technik GmbH, Berlin; Hans-Jürgen Straub, Aufsichtsrat X-FAB, Erfurt; Andreas Wild, Excecutive Director ECSEL, Brüssel; Hubert Lakner, Insitutsleiter FhG-IPMS, Dresden
einig, dass sich Europa als Ganzes bzgl. der Verfügbarkeit des Technologiestacks der mikroelektronischen Basistechnologien in einer ähnlich prekären Lage befindet wie seinerzeit die DDR, mit derselben realen Gefahr, dass die essentiellen Wertschöpfungen in naher Zukunft nicht (mehr) in Europa stattfinden werden.
Ich möchte wenigstens im Nachgang auf diese Problemlage hinweisen, die in Ihrer Antwort auf meine zweite Frage überhaupt keine Rolle spielte, zumal es mit ECSEL hier inzwischen konzertierte Bemühungen auf europäischer Ebene gibt. Ich hoffe und wünsche mir, dass sich meine GI an den entsprechenden Entscheidungsfindungen beteiligt.
Hans-Gert Gräbe, 12.06.2015